Lispector, Clarice: Der Lüster

Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch und mit einem Nachwort von Luis Ruby.
Berlin: Schöffling & Co., 2013. 365 S., geb., 22,95 €.
O: O lustre. Rio de Janeiro 1946.
978-3-89561-621-1
- dass. - München: btb, 2016. 365 S., kt., 10,99 €.
978-3-442-74905-8
Virgínia lebt mit ihren Geschwistern Esmeralda und Daniel sowie ihren Eltern und der Großmutter auf dem Hof Granja Quita in der Nähe der Ortschaft Brejo Alto. In dem für die Famiie zu großen Haus verschwinden allmählich die Möbel. „Aber der Lüster! Da war der Lüster,“ dachte das Kind und „betrachtete ihn reglos, beunruhtigt, als ahnte sie ein schreckliches Leben voraus.“
Virgínia hat ein enges Verhältnis zu ihrem älteren, bald 15 Jahre alten Bruder Daniel, „ein merkwürdiger Junge, empfindsam und stolz, schwer zu lieben“. Ihre Vertrautheit beruht auf einigen Geheimnissen, die nur sie, die oft isoliert von der Familie die Umgebung erkunden, miteinander teilen. Virgínias Zuneigung wird von ihm oft schroff mit Ausdrücken wie “blöde Gans“ oder „dumme Kuh“ zurückgewiesen. Allmählich vergeht die Leichtigkeit ihrer Beziehung zueinander. Sie beobachtet Daniel und findet, dass sein Wesen „ernster und unnachsichtiger geworden“ war, „eine zitternde Rohheit“. Virgínia spürt, dass sie älter geworden ist: „Plötzlich schienen die Worte, von denen sie in der Kindheit gelebt hatte, aufgebraucht zu sein, und sie fand keine anderen“.
Sie zieht in die Stadt, lebt dort in einem kleinen Appartement und hat eine Liebesbeziehung mit Vicente („eigentlich ist er ein ganz normaler Mensch ... er hat nichts Besonderes an sich. Er trägt eine Brille“). Ihr Leben verläuft relativ ereignislos; engere Bekanntschaft gibt es nur zu Vicentes Freund Adriano und dessen Frau Maria Clara. Häufig denkt sie an Daniel, der mittlerweile verheiratet ist und schreibt ihm lange Briefe. Sie wechselt ihren Wohnsitz und zieht in eine Pension. Sie fühlt sich unfähig mit den Bewohnern des Hauses Kontakt aufzunehmen und trifft sich lediglich mit Miguel, dem Hausmeister zum Kaffeetrinken und Bibellesen.
Der Tod der Großmutter ist für sie Anlass, Vicente und die ungeliebte Stadt („Stadt-aus-Metall“) zu verlassen und nach Granja Quita zurückzukehren. Auf die neugierigen Fragen ihrer Schwester Esmeralda nach ihren Erlebnissen in der Stadt kann sie kaum befriedigende Antworten geben. „Ich wäre dageblieben“ antwortet ihre Schwester nur lakonisch.
Im Zug - Virgínia hatte sich entschieden, in die Stadt zurückzukehren, erinnert sie sich an den Lüster. Sie hatte vergessen, nach dem Lüster zu schauen. „Und ohne sich zu verstehen, das Gefühl einer gewissen Leere im Herzen, schien ihr auch noch, dass sie nun wirklich eine von ihren Sachen verloren hatte.“
Der zweite Roman von Clarice Lispector – eine nur durch einzelne Episoden unterbrochene ereignislose Geschichte – besteht aus einem andauernden Monolog, der die Selbstverständigung einer heranwachsenden Frau von ihrer Kindheit an widerspiegelt. Es ist ein Roman, dessen außergewöhnliche Sprache zunächst irritiert, auf die man sich aber einlassen muss, um ihre poetische Qualität zu geniessen. Ein einmaliges Lesen wird dazu nicht ausreichen und den Leserinnen und Lesern sei der Rat des Übersetzers empfohlen: Nehmen Sie sich Zeit, „Zeit für langsame Lektüre, für langen Gewinn.“
Klaus Küpper, BzL
Luis Ruby, geboren 1970, hat Hispanistik, Anglistik und Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Salamanca und München studiert. Er übersetzt aus dem Spanischen, Italienischen, Portugiesischen und Englischen. Ruby wurde mit dem Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft (2003), dem Bayerischen Kunstförderpreis (2008) und dem Münchner Literaturstipendium (2013) ausgezeichnet. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen neben zahlreichen italienischen und spanischen Romanen Werke von Clarice Lispector, Eduardo Halfon, Hernán Rosino, José Carlos Somoza, Pedro Juan Gutiérrez und Jorge Amado. Luis Ruby lebt in München.
Clarice Lispector wurde am 10.12.1920 in Tschetschelnik/Ukraine als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer geboren.
Sie studierte Jura, schrieb Romane, Erzählungen und Kindergeschichten; sie gilt außerdem als Pionierin des weiblichen Journalismus in Brasilien.
Zahlreiche Romane und Erzählungen wurden bisher ins Deutsche übersetzt; leider ist davon vieles nicht mehr lieferbar. Darunter sind allein drei Bände mit Erzählungen (Die Dame und das Ungeheuer, Die Nachahmung der Rose und Wo warst du in der Nacht), sowie die Romane "Der Apfel im Dunkeln", "Eine Lehre oder das Buch der Lust", "Von Traum zu Traum" u. a.
Für weitere Informationen zu der Autorin siehe die Biographie von Benjamin Moser.
Dort, wo das Denken aufhört zu denken, wo es schwungvolle Freude wird, dort schreibt sie ... Unter dem Blick von Clarice Lispector blüht jedes Ereignis auf, das Gewöhnliche öffnet sich und zeigt seinen Schatz, der gerade gewöhnlich ist. (Hélène Cixous)
Clarice Lispector starb 10.12.1977 in Rio de Janeiro.
(Foto: Lispector a. e. bras. Briefmarke © K. Küpper)
Titel:
Die Passion nach G.H.
Wofür ich mein Leben gebe
Ich und Jimmy
Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau
Aber es wird regnen
Der große Augenblick
Der Lüster
Nahe dem wilden Herzen
Das Geheimnis des denkenden Hasen und andere Geschichten