Zum 100. Geburtstag von João Cabral de Melo Neto
Vor einhundert Jahren, am 9. Januar 1920 wurde in Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco, einer der bedeutendsten brasilianischen Dichter geboren.
Nach seiner Kindheit auf der elterlichen Zuckerrohrplantage, einem aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenen Schulbesuch und verschiedenen Verwaltungstätigkeiten, gelang ihm im Alter von 25 Jahren der Eintritt in den diplomatischen Dienst seines Landes. In seiner kleinen Druckerei in Barcelona, wo er bis 1950 als Vizekonsul tätig war, schuf er „mit einem sorgfältigen graphischen Aspekt“ seine Gedicht O cão sem plumas, das Haraldo de Campos als einen turning point der Cabralschen Poesie bezeichnete. Im Nachwort der Übersetzung von Willy Keller (Der Hund ohne Federn), die 1964, herausgegeben von Max Bense und Elisabeth Walther in einer Auflage von 350 (!) Ex. im Rahmen einer Reihe der Konkreten Poesie erschien, schreibt Haroldo de Campos, dass Cabral in seinem fundamentalen Gedicht ein von Brecht verkündetes Ideal verwirklicht habe: “die gleichzeitige Treue zu einem doppelten Kompromiss, dem ethischen und ästhetischen.”
Cabral de Melo Neto, der heute als Erneuerer der Sprache der brasilianischen Lyrik anerkannt ist, nahm im Gegensatz zu den anderen Vertretern der sogenannten “Generation von 1945”, die sich wieder symbolistischen Formen zuwandten, einen anderen Weg. Seine Poesie “steht im Zeichen der Präzision, des Bewußtseins und Bewußtmachens von Wort und Ding”. (Reichardt) Sein zweiter Gedichtband O Engenheiro von 1945 macht diese Entwicklung deutlich: “Der Ingenieur träumt klare Dinge: | Oberflächen, Tennis, ein Glas Wasser. | Bleistift, Winkelmaß, Papier, | … | Der Ingenieur denkt die genaue Welt, | Welt die kein Schleier verhüllt.”
1956 erschien sein episches Gedicht Morte e vida severina („Tod und Leben des Severino“, nachgedichtet von Curt Meyer-Clason), das vom Theater übernommen wurde und ergänzt mit der Musik von Chico Buarque nach dem Gewinn der Goldenen Palme beim „Weltfestival des Universitätstheaters“ 1966 in Nancy zu einem Welterfolg wurde. Es schildert in einem mit Handlungsdialogen vermischten Monolog die lange Flucht des Severino aus dem vertrockneten brasilianischen Sertão zur Küste, in der Hoffnung auf Arbeit, Brot und Leben. Aber „die braven Leute aus den Bergen, | die voller Hoffnung nach Recife kommen, | um hier alt und satt zu sterben, finden statt eines neuen Zuhause | nur im Friedhof Unterkommen ...“. „Severino, Landflüchtling“, spricht der Zimmermann, Vater eines gerade neugeborenen Kindes am Ziel der Reise, „erlaube, daß ich dir jetzt sage: | ich weiß keine Antwort auf deine Frage, | ob es besser ist, | den Sprung zu wagen | von der Brücke und vom Leben ...“.
Landschaften und Lebensformen seiner Heimat bleiben für Cabral bestimmender Inhalt seiner Dichtung, auch wenn ihn seine diplomatische Tätigkeit nach England, Frankreich, Paraguay, Senegal, Ecuador und Portugal führte. Besonders verbunden fühlte er sich mit der kargen spanischen Landschaft, die ihn an seine Heimatregion erinnerte.
1993 erschien der dritte Teil seines Triptychons „Der Fluß“ („oder Reisebericht des Capibaribe von seinem Ursprung bis zur Stadt Recife“), zusammen mit den Dichtungen „Der Hund ohne Federn“ und der Geschichte des Severino, übersetzt von Curt Meyer-Clason in einer schön gestalteten zweisprachigen Ausgabe. Hier lässt er den Fluß Capibaribe erzählen, den Fluß seiner Heimat, was er auf der Reise von der Quelle bis zu Mündung erlebt und beobachtet. „Wenn ich nach Recife komme, | glaubt nicht, ich komme allein. | ... | Es kommen die von der Fabrik | erst Zerkauten, dann Zertreuten. | Es kommt der Fabrikbesitzer, | den ein größerer verschleißte. | Es kommt jener Mühlenbesitzer, | jetzt nurmehr Lieferant. | ... | Endlich kommt der Arbeiter, | der durch alle Mäuler ging. | Er sieht, daß jedes Maul | ein größeres Maul einfing.“
1984, ein Jahr vor dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien, erschien das Epos vom Mönch Joaquim do Amor Divino Rabelo, genannt Caneca, der 1825 als Aufständischer gegen die kaiserliche autokratische Herrschaft hingerichtet wurde. „Der Weg des Mönchs“, ein Spiel für Stimmen, wie Cabral sein Werk selber nennt, begleitet den Deliquenten auf seinem Weg vom Gefängnis zum Richtpatz. In den Monologen Canecas, den Gesprächen und Aussagen der Leute auf der Strasse, der Geistlichkeit und der Miltärs wird deutlich, daß es dem Dichter um mehr geht, als die Schilderung einer historischen Begebenheit. Mit einem Spiel von Doppelsinnigkeiten im Text „läßt Cabral ... sein Besorgnis um ... ein Brasilien (anklingen), in dem die Bestechlichkeit der Mächtigen als Henker erleuchteter, freiheitsfordernder Geister dient.“ (Curt Meyer-Clason)
In deutscher Übersetzung erschien außer den genannten Ausgaben 1969 eine einsprachige Auswahl seiner Gedichte, die 1989 erweitert und zweisprachig unter dem Titel „Erziehung durch den Stein“ ediert wurde.
Der Dichter starb am 9. Oktober 1999 in Rio de Janeiro.
Alle deutschsprachigen Veröffentlichungen von Cabral de Melo Neto, um die sich vor allem Curt Meyer-Clason verdient gemacht hat, sind heute vergriffen. Die Aktualität seines Werkes aber wird heute mehr als deutlich.
(das Gemälde Retirantes von Portinari wurde für den Titel der letzten Ausgabe von "Severino" von 1988 verwendet)