Sepúlveda, Luis: Der weiße Wal erzählt seine Geschichte
Sepúlveda, Luis: Der weiße Wal erzählt seine Geschichte
[KJL] Aus dem Spanischen von: Willi Zurbrüggen.
Mit Illustrationen von: Simona Mulazzani
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2020.89 S., HC, 12,00 €.
O: Historia de una ballena blanca. Barcelona 2018.
978-3-7373-5742-5
Ab 9 Jahren
Luis Sepúlveda erzählt die Geschichte des berühmten weißen Wals – unsterblich geworden als „Schiffe zerstörendes Ungeheuer“ durch Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851) – aus einer ungewöhnlichen Perspektive: der des Wals selbst.
Still beginnt die Erzählung, die die Tiefe und die poetische Unterwasserwelt aus der Perspektive des Wals beschreibt. Mocha Dick, so der Name des weißen Riesens, schildert die Geschichte des Walfangs und berichtet von der Entwicklung der Menschen, die immer besser lernen, mit dem Meer umzugehen und so mehr Raum im Wasser für sich erobern. Während die Menschen den Wal aufgrund seiner Größe zunächst fürchten und Abstand halten, schwindet ihr Respekt vor den Riesen des Meeres in dem Maße, in dem sie beginnen, tiefer in den Lebensraum der Wale einzudringen. Immer weiter wagen sie sich auf das offene Meer hinaus – zunächst in kleinen Booten, dann in großen Schiffen – und fangen schließlich in ihrer Habsucht an auf Wale Jagd zu machen, wegen des Öls für ihre Lampen und des wertvollen grauen Ambers. Eine Ausnahme sind die Lafkenche-Indianer, die an den Küsten Chiles beheimatet sind und von der Natur nur das nehmen, was sie zum Leben brauchen. Die Entstehung der Legende um den weißen Pottwal Mocha Dick, der Ende des 18. Jahrhunderts im pazifischen Ozean an der chilenischen Küste lebte, ist eng mit den Traditionen der Lafkenche, den „Leute des Meeres“, verbunden. Als junger Wal wird Mocha Dick von einem alten Pottwal auf seine Aufgabe vorbereitet, die darin besteht, die Trempulkawe, vier besondere Walweibchen, die bei Tag zu alten Lafkenche-Frauen werden, zu beschützen. Ein Pakt, so alt wie das Meer zwischen den Pottwalen und dem Volk der Lafkenche. Der Wal hat so seine erste Begegnung mit Walfängern, denen er sich entgegenstellt, um seine Schutzbefohlenen vor dem Tod zu retten. Er findet schnell heraus, wie die Jagd funktioniert, dreht den Spieß um und bringt seine Jäger zum Kentern. Durch seine Geschicklichkeit erringt er eine gewisse Bekanntheit, die mehr Walfänger anlockt, aber auch deren Hass erweckt. Mocha Dick lernt die Grausamkeit der Menschen kennen. Er wird verwundet und rächt sich, indem er ein Boot zerschmettert. Doch die Walfänger sind hartnäckig. Eines Nachts greifen sie die Trempulkawe mit zwei Schiffe gleichzeitig an. In die Enge getrieben und hilflos gegenüber der menschlichen Zerstörungswut, greift Mocha Dick die Walfänger in der Folge selbst an. Hasserfüllt und mit neun Wurfspeeren im Körper, macht sich der weiße Wal von nun an auf die Suche nach weiteren Walfangschiffen, um über sie herzufallen und wird so zum erbarmungslosen Rächer der Meere, zu dem die Habgier und Hass der Menschen ihn werden ließen: „Ich, die Macht derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Ich, die erbarmungslose Gerechtigkeit der Meere.“ Nur durch mehrere Schiffe und über 100 Wurfspeere kann Mocha Dick schließlich durch die Walfänger besiegt werden.
In 14 Kapiteln lässt Sepúlveda den Wal sein Leben schildern. Kapitel 1 und 14 stellen dabei als Vor- und Nachwort eine Art poetische Rahmenkapitel dar, die die Erzählung sowohl historisch als auch in der Lafkenche-Kultur verorten. Die Bilder der italienischen Illustratorin Simona Mulazzani verblassen – nicht zuletzt wegen ihrer unaufdringlichen Farbgebung in Schwarz und Weiß – beinahe neben der erschütternden Kraft der eindrucksvollen Erzählung, der eine tiefe Traurigkeit zugrunde liegt. Nichtsdestoweniger sind die 14 Abbildungen eine schöne Zugabe für die kleineren Leser. Das letzte Buch des im Jahr 2020 verstorbenen Schriftstellers ist zugleich Erinnerung und eindringliche Mahnung. Während damals Jagd auf Wale gemacht wurde, sterben heute Bienen und Insekten und viele andere Tierarten sind durch menschliches Handeln vom Aussterben bedroht. Sepúlvedas Erzählung ist ein Aufruf zum Schutz der bedrohten Arten und Anklage gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Natur durch die zerstörerische Gier des Menschen, der – mit den Worten von Sepúlvedas – „einzige[n] Spezies, die ihresgleichen angreift.“ Es ist auch ein Aufruf zu Aufmerksamkeit und Respekt gegenüber den Traditionen und Lebensweisen anderer.
Johanna Klute, Bücher zu Lateinamerika
Willi Zurbrüggen wurde am 29.4.1949 in Borghorst/Westf. geboren. Nach einer beruflichen Tätigkeit als Bankangestellter wurde er Übersetzer aus dem Spanischen. Zu seinen Übertragungen, für die er zahlreiche Preise erhielt, gehören u. a. Werke von Antonio Muñoz Molina, Miguel Ángel Asturias, Haroldo Conti, Mempo Giardinelli, Mario Benedetti, Luis Sepúlveda, Antonio Skármeta, José Donoso und Francisco Coloane.
Simona Mulazzani, geborene1964 in Mailand, ist Buchillustratorin und hat bei den bedeutendsten italienischen, französischen und japanischen Verlagen publiziert. Ihre preisgekrönten Werke wurden in Ausstelungen in Rom und Mailand präsentiert. Sie lebt in Pesaro.
Der Autor:
Luis Sepúlveda wurde am 4.10.1949 in Ovalle/Nordchile geboren.
Er war Autor von Theaterstücken, Hörspielen, Essays, Erzählungen, Romanen und arbeitete als Journalist und Regisseur.
Sein Werk wurde mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichnet. Nach dem Putsch der Militärs 1973 wurde er zweimal verhaftet und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, kam erst auf internationalen Druck frei und ging zunächst nach Ecuador, später in die Bundesrepublik Deutschland und nach Frankreich ins Exil.
In deutscher Übersetzung erschienen u.a.: "Der Alte, der Liebesromane las", "Patagonien Express", "Die Spur nach Feuerland", Tagebuch eines sentimentalen Killers", "Wie man das Meer sehen kann" und nicht zuletzt die wunderbare Geschichte "Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte." Leider sind viele der ins Deutsche übersetzten Arbeiten von Sepúlveda mittlerweile vergriffen.
Sepúlveda starb am 16. April 2020 in Gijón/Spanien.
Titel:
Der Alte, der Liebesromane las
Historia de un caracol que descubrió la importancia de la lentitud
Eine Idee von Glück
Der langsame Weg zum Glück
Wie der Kater und die Maus trotzdem Freunde wurden (HB)
Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte (HB)
Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte
Wie der Kater und die Maus trotzdem Freunde wurden
Der Schatten dessen, was wir waren