Gertopán, Susana: Die dunkle Gasse

Aus dem paraguayanischen Spanisch von Stefan Degenkolbe.
Mit einem Nachwort von Liliana Ruth Feierstein.
Berlin: Hentrich & Hentrich Verlag, 2012. Jüdische Spuren, Bd. 2. 205 S., englbr., 17,90 €.
O: El callejón oscuro. Asunción 2010.
978-3-942271-63-9
Die letzte deutsche Übersetzung vor dem o. a. Prosaband, die die deutschsprachigen Leserinnen und Leser aus Paraguay erreichten, war „Ich, der Allmächtige“, der berühmte Roman von Augusto Roa Bastos, und das war „nur“ eine Neuübersetzung des erstmals 1979 auf Deutsch erschienen Werks. Bis auf ein 2013 erschienenes Lyrikbändchen von Jorge Kanese und kleinere Texte in Anthologien und Zeitschriften bleibt Paraguay für den deutschsprachigen Raum ein weißer Fleck auf der Landkarte der lateinamerikanischen Literatur.
„Die dunkle Gasse“ ist das Erinnungsbuch an eine Kindheit und Jugend in Asunción. Die beiden Cousins José und Ariel lebten vor vielen Jahre im Barrio Palestina, dem jüdischen Viertel von Asunción und verloren sich im Laufe der Zeit durch den Wegzug der Familie von Ariel aus den Augen. Ihre gemeinsame verwitwete Großmutter war mit drei Kindern noch vor dem Zweiten Weltkrieg aus Polen nach Paraguay ausgewandert. Der Rest der Familie überlebte Krieg und Holocaust nicht.
José ist überrascht, als er nach Jahren von Ariel einen Brief erhält, in dem dieser ihn voller Verzweiflung bittet, bei der verloren gegangenen Erinnerung an die gemeinsame Kindheit (und ein gemeinsames schreckliches Erlebnis) zu helfen. Für José ist diese Bitte eine Gelegenheit, sich – wenn auch nur widerwillig –, an die eigenen Erlebnisse dieser fernen Zeit zu erinnern, die auch er verdrängt und teilweise vergessen hat. In den Aufzeichnungen und Notizen, die er für seinen Couson anfertigt, wird für ihn (und damit für die Leserinnen und Leser) eine längst vergangene Zeit wieder lebendig.
José schildert die mehrfache Enge in seinem Elternhaus, die kleine Wohnung im Hinterhaus des Kleider- und Stoffladens und das strenge Verbot, das Viertel zu verlassen. Die Neugierde führt ihn aber schon als Kind und später als Jugendlicher immer wieder auf die „andere Straßenseite“, über die starren Grenzen hinaus zum Petirossi-Markt und zu dieser dunklen und geheimnisvollen Gasse ohne Sonnenschein. Im diesem Labyrinth der Buden und dunklen Ecken lernt er eine Vielzahl seltsamen Gestalten kennen. Gleichgültig ob Bettler, Händler, Metzger, geistig Verwirrter, Zuhälter oder Indianer, allen begegnet er mit Neugierde, Empathie und Hilfsbereitsschaft und zu vielen hält er über viele Jahre Kontakt. José lernt Guaraní während seine Umgebung weiter nur jiddisch und kaum Spanisch spricht und er wirkt bei seinen „Grenzüberschreitungen“ wie ein Vermittler zwischen den sich oft fremd bleibenden, verschiedenen ethnischen Gruppen. Für seine Eltern, die in ihrer neuen Heimat nie wirklich angekommen sind, ist er der fleißige Jurastudent mit einer erfolgreichen Karriereaussicht, während er selbst schon längst als Naturheiler praktiziert.
In dieser liebevoll erzählten Geschichte lernen die Leserinnen und Leser das hierzulande völlig unbekannte Schicksal der jüdischen Einwanderer in Paraguay kennen. Ergänzende Hintergrundinformationen finden sich im Nachwort dieses empfehlenswerten Bändchens von Liliana Ruth Feierstein.
Klaus Küpper, BzL
Stefan Degenkolbe, geboren 1971, lebt und arbeitet als freier Übersetzer aus dem Spanischen und lateinamerikanischen Spanisch in Berlin. 2010 erschien seine Übersetzung „Jüdische Gauchos“ von Alberto Gerchunoff aus Argentinien; 2012 seine Übersetzung „Die dunkle Gasse“ von Susana Gertopán aus Paraguay.
Liliana Ruth Feierstein ist in Argentinien geboren. Sie hat Erziehungswissenschaften an der Universidad de Buenos Aires studiert. 2007 promovierte sie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Fachbereich Philosophie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind jüdische Kultur, Geschichte und Literatur in romanischsprachigen Ländern (v.a. Lateinamerika) sowie Theorien der Diaspora. Seit Oktober 2014 ist sie Juniorprofessorin für die transkulturelle Geschichte des Judentums am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die Autorin:
Susana Gertopán, geboren 1956, wuchs als Nachfahrin von russischen, polnischen und litauischen Einwanderern im jüdischen Viertel von Asunción auf. Hier lebten sowohl Einwandererfamilien, die schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Paraguay gekommen waren und ausschließlich Jiddisch sprachen, als auch Emigranten, die vor der Shoah aus Europa flohen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden in Asunción auch Nationalsozialisten Zuflucht, wie der KZ-Arzt Josef Mengele. Gertopáns Romane, darunter eine Trilogie zur jüdischen Einwanderung in Paraguay, wurden mit dem Premio Nacional de Literatura, dem Premio Literario Roque Ganoa der Sociedad de Escritores del Paraguay und beim Premio Oscar Trinidad ausgezeichnet.
Titel:
Die dunkle Gasse