[Brasilien] Prutsch, Ursula / Rodrigues-Moura, Enrique: Brasilien

Eine Kulturgeschichte.
Bielefeld: transcript, 2013. America: Kultur – Geschichte – Politik, Bd. 5. 261 S., br., 24,80 €.
978-3-8376-2391-8
Ordem e Progesso – Ordnung und Fortschritt, ein Motto von Auguste Conte, steht auf der brasilianischen Flagge seit der Gründung der Republik im Jahre 1889. Von beiden Mottos ist in der aktuellen Situation des Landes kaum etwas zu spüren. Von einem selbstsicheren Auftreten, so das Vorwort des vorliegenden Bandes, und einer Situation, in der Brasilien dabei ist, sich einen Platz im Olymp der Industrienationen zu erkämpfen, kann heute, im Jahre der Olympischen Spiele, keine Rede sein. Im Gegenteil: Der Aufstieg Brasiliens zu einem der wichtigsten wirtschaftlichen Länder mit globalem politischen Einfluss fand vor kurzem ein jähes Ende. Das Land steht vor einem ökonomischen Abgrund und gleichzeitigen politischen Krise, die das Ende der hoffnungsvoll gestarteten Präsidentschaft von Dilma Rousseffs bedeuten könnte.
Die Darstellung der vielseitigen Kultur Brasiliens und seiner Geschichte sind Themen des Buches. Zu dieser Geschichte gehören sowohl die „edlen Wilden“ als auch die Kannibalen aus der Frühzeit der Entdeckung und Kolonialzeit des Landes. Dazu gehören in der Folgezeit der Anbau des Zuckers, die Einführung der Sklaverei und Christianisierung durch die Jesuiten. Der Einfluss der Gold- und Diamantenfunde, der dadurch zugrundeliegende Reichtum in der Kolonie und der sich darin äußernde üppige Barock sind gleichfalls Thema. Einen historischen Einschnitt bedeutete die Flucht des portugiesischen Könighauses nach Brasilien: das bisher abgeschottete Land öffnete sich Forschern, Einwanderern und Künstlern und führte schließlich zur Unabhängigkeit im Jahre 1822. Im Kaiserreich begann die Beschäftigung mit den indigenen Kulturen und die allmähliche Besinnung auf eine eigenständige brasilianische Kultur, die aus der Verschmelzung vom europäischen und indigenen Erbe gesehen wurde (davon gibt z. B. die bis heute populäre Erzählung Iracema [Anagramm von America] von José de Alencar aus dem Jahre 1865 Zeugnis ab). Das Ende der Sklaverei fand fast zeitgleich mit der Gründung der Republik statt. Weitere einschneidende Ereignisse, die bis heute lebendig sind und immer wieder literarisch und/oder musikalisch bearbeitet werden sind u.a. der Krieg in Canudos und der Kautschukboom. Die Gedenkfeiern zur 100jährigen Unabhängigkeit waren für viele Kulturschaffende erneut Anlass, sich der eigenen Wurzeln zu besinnen. Radikaler Ausdruck war das „Kannibalistische Manifest“ von 1928, mit dem Oswald de Andrade dazu aufrief, nicht mehr weiter nur das europäische Erbe nachzuahmen.
Die spannende und sehr informative Darstellung behandelt parallel zu den politischen Ereignissen deren Einfluss auf die kulturelle Entwicklung unter der Diktatur Getúlio Vargas´, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, der neuerlichen Diktatur bis in die heutige Zeit. Stichworte sind Fußball, Capoeira, Karneval, Cinema Novo, der Bau Brasilias u. a. m.
Die Autoren bleiben trotz der aktuellen Entwicklung optimistisch wenn sie zum Schluss bemerken: „Die Sehnsucht gehört zu werden ... ist den Brasilianern gelungen. Sie sind international nicht mehr zu überhören, weder ökonomisch und politisch, noch kulturell.“
Zahlreiche Abbildungen und ein ausführliches Literaturverzeichnis runden diesen empfehlenswerten Band ab.
Klaus Küpper, BzL
Ursula Prutsch lehrt Geschichte Lateinamerikas und der USA an der Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkt sind Brasilien und Argentinien.
Enrique Rodrigues-Moura lehr am Institut für Romanistik der Universität Bamberg und forscht im Bereich der iberoromanischen transatlantischen Beziehungen.