Fuentes, Carlos: Unheimliche Gesellschaft

Sechs phantastische Erzählungen. Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag, 2008. TB 16862. 302 S., kt., 9,95 €.
O: Inquieta compañía
978-3-596-16862-0
Nach dem Tod seiner Mutter hat Alejandro de la Guardia keine Bindungen mehr an seine Geburtsstadt Paris und so fährt er in Erwartung einer Erbschaft in die Heimat seiner Eltern nach Mexiko. Seine alten Tanten empfangen ihn mit großer Herzlichkeit. Nur daß er das alte, etwas heruntergekommene Haus stets durch den Hintereingang verlassen und betreten darf, kommt ihm wunderlich vor. Bald wird ihn noch manches mehr verwundern, angefangen vom Kinderpyjama, den die Tanten offensichtlich für ihn zurechtgelegt haben bis zu der vergifteten Schokolade, die er in seinem Zimmer findet. Als sie ihn dann nach einem Bad liebevoll abtrocknen und in den Keller führen, ist es zu spät für eine Flucht – der mit weißer Seide ausgeschlagene Sarg wartet schon auf ihn. So beginnt und endet die erste dieser unheimlichen Geschichten. Nach Mexiko zu einem kurzen Besuch kommt auch Graf Dracula, während die Verbindung zwischen deutscher und mexikanischer jüngerer Geschichte durch die geheimnisvolle Gestalt des Emir Baur repräsentiert wird, der schon 1915 in den Wirren der mexikanischen Revolution zu Reichtum gekommen ist, sich später als Nazi-Anhänger bekannte und nun den mexikanischen Arzt Jorge Caballero (oder doch Georg von Reiter?) in seine Villa in den Llanos von Chihuahua einlädt, um seine kranke Frau zu behandeln. In der Erzählung „Calixta Brand" wird die Protagonistin von ihrem tyrannischen Ehemann durch einen Engel erlöst: „Meine Frau in den Armen, stieg Miguel Asmá aus dem Garten zum Himmel auf." Alle Geschichten beginnen ganz harmlos, erzählen scheinbar belangloses bis plötzlich oder schleichend das Unheimliche in die Normalität des Alltags einbricht. Und die Leserinnen und Leser sind sofort gefesselt, ob es sich nun um die Obsession eines Theaterliebhabers handelt, der in der Schauspielerin der Ophelia seine heimliche Liebe wiedererkennt und sie aus den Händen von Hamlet zu erretten sucht oder um Leticias Mann, der sich plötzlich als ein 1649 verbrannter Jude entpuppt. Sechs Meisterstücke der mexikanischen Kurzprosa sind zu entdecken!
Klaus Küpper, BzL
Der Autor:

Wie sein Vater wurde er Diplomat und vertrat sein Land in New Delhi, Washington, London und Paris. In Paris lebte er von 1968 bis 197 aus Protest gegen das Massaker an den Studenten auf der Plaza de las tres Culturas in Mexiko-Stadt im „Exil". In den siebziger Jahren war Fuentes Botschafter in Paris. Seit 1990 lebt Fuentes in Europa.
Für sein Werk erhielt er 1987 den höchsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt, den Premio Cervantes.
Hauptthemen seiner Werke sind die Erkundung menschlicher Schicksale und deren soziale Basis in der Geschichte Mexikos. Vor allem die nicht eingelösten Ideale und Versprechen der mexikanischen Revolution stehen im Vordergrund, wobei die Durchdringung der Gegenwart von der Vergangenheit her auch seine Sprache und die vielfältigen stilistischen Mittel bestimmt. Zu seinen bekanntesten und bedeutendsten Werken gehört die Sammlung von Erzählungen (Chac Mool) sowie die Romane "Landschaft in klarem Licht" (La región más transparente), "Nichts als das Leben" (La muerte de Artemio Cruz), "Hautwechsel" (Cambio de piel) und das monumentale Werk "Terra Nostra" (Terra Nostra). (Besprechungen in Bücher zu Lateinamerika, Gesamtverzeichnis 2002/03ff.)
Carlos Fuentes starb am 15.5.2012 in Mexiko-Stadt.
(Foto: © privat)
Titel:
Landschaft in klarem Licht
Die fünf Sonnen Mexikos
Alle glücklichen Familien
Unheimliche Gesellschaft